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WASSER!

Es gibt Momente im Leben, in denen wir plötzlich von einer unerklärlichen Sehnsucht erfasst werden. Eine Sehnsucht, die uns dazu treibt, etwas zu tun, was wir lange vernachlässigt haben. Bei mir war es eines Morgens der Gedanke an Wasser.

 

Ein Essay von Doris Büchel

Noch am selben Tag machte ich mich auf die Suche nach meinem alten, rostroten Badeanzug. Irgendwo hier in einer dieser Schubladen musste er doch sein. Ja, tatsächlich, es gab ihn noch. Sofort probierte ich ihn an und zu meiner Überraschung passte er noch. Also stopfte ich ihn zusammen mit meinem ebenso alten Strandtuch in die nächstbeste Tasche und ging nach gefühlten hundert Jahren zum ersten Mal wieder ins Freibad. Zuerst fühlte ich mich ungewohnt nackt und ein bisschen genierte ich mich auch. Ich war ein Winterkind und bewegte mich eingemummelt in Schal und dicke Jacke selbstverständlicher als im Badeanzug mit blassen Beinen. Nicht, weil ich mich für meinen Körper schämte. Das nicht. Zwei, drei Kilo mehr, zwei, drei Kilo weniger – darüber hatte ich mir nie viele Gedanken gemacht. Trotzdem fühlte es sich komisch an, keine Kleider zu tragen und so zu tun, als wäre es das Normalste der Welt (was es natürlich ist). Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen und versuchte mich in gelassener Lässigkeit. Aber ich fürchte, mein unnatürlich steifer Gang verriet mich trotzdem.

Dann tauchte ich ein. Ich hielt den Atem an. Und tauchte ab.

Vom ersten Augenblick an hat die Berührung des Wassers etwas mit mir gemacht. Ich fühlte mich … auf seltsame Weise … geborgen, aufgehoben. Das Wasser war angenehm frisch und weich und freundlich wie die Umarmung eines Menschen, den man zwar kaum kennt, in dessen Nähe man sich aber auf unerklärliche Weise sofort wohl fühlt.

«…Schwimmen, so viel weiss ich inzwischen, löst keine Probleme, aber es kann für Klarheit und Mut sorgen, um sich ihnen zu stellen.»

Dann stiess ich mich mit beiden Füssen kräftig vom Beckenrand ab. Ich machte mich lang … und schwamm. Mein Körper erinnerte sich sofort. Eintauchen, ausatmen, lang machen. Auftauchen, einatmen, Armzug, Beinschlag. Jeder Muskel wusste, was er zu tun hatte, jede Bewegung mit Armen und Beinen erzeugte kleine Wellen. Eintauchen, ausatmen, lang machen. Auftauchen, einatmen, Armzug, Beinschlag. Es war leicht. Es war feierlich. Es war ein Geschenk. Es war mein Geschenk an mich. Mein Geheimnis in mir. Seither ist das Wasser meine kostbarste Kraftquelle. Im Wasser bin ich bei mir. Keine Musik, kein Bild, keine Worte können in mir das auslösen, was das Eintauchen ins Wasser bewirkt. Wasser, Wasser, Wasser. Die deutsche Schriftstellerin Kristine Bilkau schreibt in ihrem feinen kleinen Erzählband «Wasserzeiten – Über das Schwimmen»:
«…Schwimmen, so viel weiss ich inzwischen, löst keine Probleme, aber es kann für Klarheit und Mut sorgen, um sich ihnen zu stellen.»

Im Sommer schwimme ich sportlich. Ich ziehe meine Bahnen, fünfzig Meter hin, fünfzig Meter zurück. Kraftvoll, konzentriert, monoton. Zwölf Mal hin, zwölf Mal zurück. Dann steige ich aus dem Becken, fühle mich wie Wonder Woman, wechsle den nassen Badeanzug gegen einen trockenen, und zur Belohnung gibt es auf dem Rückweg von der Umkleidekabine einen Espresso und etwas Süsses aus dem Bistro. Immer der gleiche Ablauf. Mein heiliges Ritual. Wann immer möglich.

Im Winter rückt das Sportliche in den Hintergrund. Dann gibt es diese Momente – am liebsten samstagmorgens –, wenn ich mein Auto parke, die gelbe Wollmütze aufsetze, aussteige, die blaue IKEA-Tasche aus dem Kofferraum fische und die paar Schritte zum See hinuntergehe. Das sind die Momente, in denen mein Herz ein bisschen schneller schlägt und ich mich frage: Was mache ich hier eigentlich? Warum genau tue ich das? Dabei kenne ich die Antwort. Sie fällt mir spätestens dann wieder ein, wenn ich aus Winterjacke, Pullover, Hose, Socken und Schuhen schlüpfe und das Neopren sorgfältig über den Badeanzug zupfe. Wenn ich barfuss im Neoprenanzug und mit der gelben Wollmütze auf dem Kopf am Seeufer stehe. Wenn ich die Schultern straffe, das Kinn trotzig nach vorne recke, noch einmal tief und bewusst ein- und ausatme und dann entschlossen Schritt für Schritt ins Wasser gehe.

Es ist der Moment, in dem das Wasser oben am Hals in den Neopren schwappt und die Kälte ihre tausend fiesen Minipfeile in meine Knochen, mein Gewebe, meine Organe, meine Haut, mein Blut und mein Gehirn schiesst. Wenn ich für diesen einen zeitlosen Moment weder atmen noch denken kann. Leere. Wenn mein System mir dann signalisiert: Atme! Atme! Atme! Und ich dann atme und … mich fallen lasse. Hingebe. Hingabe. Wenn ich später das Neopren ausziehe und – Holy – noch einmal nur im Badeanzug eintauche. Spätestens dann fällt mir die Antwort wieder ein. Sie lautet: Ich tue das, weil es mich gibt. Weil ich bin. Abenteuer und Seelenbalsam zugleich. Klingt pathetisch? Ja, das ist es auch!

Hier stehe ich nun. Das Wasser ruft mich, lockt mich mit seiner sanften Berührung und seiner verheissungsvollen Tiefe. Und während ich mich dem Element hingebe und eintauche, weiss ich, dass ich in diesen Momenten nicht nur meinen Körper stärke, sondern auch meine Seele. Denn das Wasser ist mehr als nur ein Element – es ist die Quelle der Heilung, der Erneuerung, der Stille. Es ist das Geheimnis, das ich in mir trage, die Kraft, die mich antreibt und die Schönheit, die mich umgibt.