Buchen Wochenmenü

Seelensachen

Wenn kleine Dinge grosse Gefühle wecken

 

von Doris Büchel

Kennen Sie das? Sie betreten einen Raum und fühlen sich sofort wohl. Vielleicht ist es zunächst nur ein Gefühl, das Sie nicht ganz fassen können. Doch wenn Sie bewusster darauf achten, merken Sie, wie warme Farben Sie umarmen, wie freundliches Licht Ihr Herz streichelt, wie ein weiches Kissen Sie zum Verweilen einlädt.

Vielleicht ist es die angenehme Temperatur, die, wenn Sie sich für den Rest Ihres Lebens für eine einzige entscheiden müssten, genau perfekt wäre. Vielleicht ist es die Anordnung der Möbel, sind es die offenen Flächen, die uns Raum zum Atmen geben. Oder es ist das Gegenteil: die Enge, das kreative Durcheinander, das uns Geborgenheit gibt, uns inspiriert.

Wann haben Sie das letzte Mal bewusst die Atmosphäre eines Raumes in sich aufgesogen? War es der Duft von frischem Kaffee, der Klang von Musik im Hintergrund oder waren es die sorgfältig sortierten Zeitschriften und Bücher, die Ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen? War es der Blick aus dem Fenster oder waren es eher Details wie die Form des Bestecks, das dezente Licht der Deckenlampe?

Es sind die Ecken und Nischen, die kleinen Streiflichter des Glücks, die unser Herz erobern – der Lesesessel am Fenster, das Lavabo auf der Toilette, die einzelne Blume in der Vase, die Tapete im Flur, dieses eine Bild an der Wand. All dies schafft den Raum, in dem wir uns gerne aufhalten, ohne genau zu wissen, warum.

Herrje, klingt das pathetisch? Keine Sorge, ich bin mir der Gefahr des Kitsches bewusst. Und wenn Sie eher zu der Sorte «Hauptsache, es gibt einen Stuhl, einen Tisch, etwas zu essen und zu trinken» gehören, keine Bange. Lehnen Sie sich zurück und lesen Sie entspannt weiter. Dabei möchte ich Sie allerdings vorwarnen: Es könnte sein, dass Sie am Ende doch noch etwas entdecken – sehen, hören, riechen, tasten, fühlen –, was Ihnen bisher entgangen ist.

Meine Streiflichter des Glücks

Manchmal gehe ich in die Traube, um zu schreiben. So wie jetzt. Meistens zieht es mich ins Gartenzimmer, ganz nach hinten, auf die Bank mit dem moosgrünen Polster und den wenigen Kissen. Dort, an dem kleinen runden Tisch, in «meiner» Ecke, fühle ich mich besonders wohl. Warum eigentlich?

Ist es der Blick in die Weite, den ich von hier aus geniesse? Dass ich mich etwas zurückziehen kann und doch offen bin für Begegnungen – ein «Grüezi» hier, ein «Hoi» dort? Liegt es daran, dass ich mich hier drinnen immer auch ein bisschen draussen fühle? Ich meine, selbst an einem milden Herbsttag wie heute ist die raumhohe Fensterfront fast ganz geöffnet, ab und zu streift ein Lüftchen meine Haut, ein Windhauch trägt ein Stück Alltag zu mir hinein – einen aufheulenden Motor, Gesprächsfetzen von einem Schwätzchen auf dem Trottoir. Derweil singt drinnen Bob Marley «no woman, no cry», und meine Füsse wippen im Rhythmus der Musik unter dem Tisch.

Und dann diese Farben – das zarte Grün, das warme Rosa, das helle Holz mit seiner Maserung – nichts drängt sich auf. Die ganze Umgebung gibt meinen Gedanken Raum. Überhaupt ist das für mich eines der Geheimnisse der Trauben-Oase – Schönes, soweit das Auge reicht, und doch von nichts zu viel. Nichts drängt sich auf.

Ich freue mich auf den ersten Schluck Wasser, das im Glas sprudelt. Und vielleicht bestelle ich später etwas zu essen. Das weiche Leder der Speisekarte, das Papier unter meinen Fingern – zarte Versuchung. Und wie es dampft aus dem Teller. Ich liebe heisses Essen. Gabel und Messer liegen schwer und vertraut in meiner Hand, ich überlege mir zweimal, ob ich mir den Mund mit der frisch gestärkten Leinenserviette abwische. «Isn’t she lovely» wabert es aus den Boxen – wo verstecken sie sich? Und wieder wippen die Füsse unter dem Tisch. Später der erste Schluck Espresso aus der Tasse, die sich mit ihrer glatten Oberfläche perfekt an meine Hand schmiegt.

Unter mir der Boden, ein Terrazzo mit eingelegten roten Verrucano- und den grünen Andeersteinen. Haben Sie schon realisiert, dass die grünen Steine zunehmen, sich verdichten, grösser werden, je näher sie zum Garten kommen? Über mir die filigra- nen Lampen, wie goldene Kugeln, die vom Himmel fall en. Und plötzlich denke ich an den Planeten Mars. Wieso der Mars, mögen Sie denken. Aber wissen Sie was? Für mich ist es genau so. Diese Ecke hier ist mein kleiner Mars, mein Schreibort. Inspiration.

Wenn man sich Zeit nimmt, die Umgebung wahrzunehmen, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Die deutsche Schriftstellerin Gabriele von Arnim teilt in ihrem Buch «Der Trost der Schönheit» Gedanken wie diese:

«Vielleicht ist auch das eines der Geheimnisse der Schönheit: Wenn man lange und langsam schaut, gerät man in eine kleine – der Zeit enteilende – Trance. Es lösen sich anerzogene Erstarrungen wie Schuppen von ausgetrockneter Haut, zerstauben. Und es bleibt ein sanftes Innen, ein zarter Sinn. Auf einmal setzt sich ein scheues Lächeln ins Gesicht, das sich ganz allmählich selbstbewusst ausbreitet, vom Kinn über die Wangen und Augen bis zur Stirn.»

Ja.

Ist Ihnen das alles immer noch zu romantisch und verklärt? Keine Sorge, ich versichere Ihnen: Ob Sie die Schönheit in den kleinen Dingen finden oder einfach nur einen Stuhl und ein gutes Essen suchen – Sie sind so oder so in der Traube willkommen.

Von Menschen und Begegnungen

Doch es sind nicht nur die physischen Räume selbst, die ein Gefühl von Wärme und Heimat vermitteln. Vielmehr sind es auch Menschen, die diese Räume mit Leben füllen. Eine zufällige Berührung hier, ein spontaner Blick dort, ein herzliches Lachen, eine einladende Umarmung – die Art und Weise, wie sich Menschen begegnen, wie sie miteinander interagieren, beeinflusst, wie wir uns in einem Raum fühlen und wie wir ihn erleben. Diese subtile Art der Interaktion kann oft die stärksten Eindrücke hinterlassen. Nehmen Sie sich einen Augenblick, um diese kleinen, bedeutungs- vollen Details bewusst wahrzunehmen – welche Begegnungen und Momente haben Ihren Tag bereichert? Und Sie, wie geht es Ihnen jetzt? Hat vielleicht schon ein unscheinbares Detail oder eine kleine Geste Ihr Herz berührt?

Seelennahrung

Ein Raum, der uns anspricht, bietet mehr als nur einen Tisch, einen Stuhl, etwas zu essen und zu trinken. Er erlaubt uns, uns in all unseren Facetten zu zeigen. Es ist die Kunst, Räume so zu gestalten, dass sie unsere Seelen nähren und unsere Sinne erfreuen. Ein Ort wird zur Oase, wenn er unsere innere Welt – oder zumindest einen Teil davon – widerspiegelt und inspiriert. Die wahre Schönheit liegt deshalb selten im Offensichtlichen. Wenn wir beginnen, die subtilen Eindrücke bewusst wahrzunehmen, öffnen wir unser Herz für die verborgene Schönheit, die uns umgibt. Und zum Schluss noch dies: Letztendlich kreieren wir Schönheit in uns selbst – durch unsere Offenheit und Bereitschaft, sie zu entdecken und sie wahrzunehmen.

Was schmecken Sie?

Geschmäcker und Aromen sind faszinierende Zeitmaschinen. Was empfinden Sie, wenn Sie in eine reife, saftige Tomate beissen? Vielleicht erinnert es Sie an einen warmen Sommernachmittag voller Unbeschwertheit? Oder nehmen Sie einen Schluck von perfekt aufgebrühtem Tee – weckt er Erinnerungen an einen gemütlichen Nachmittag, den Sie allein in Ruhe verbracht haben? Wenn feine, leicht pfeffrige Noten sich auf der Zunge ausbreiten, als würde die Natur darauf erblühen – spazieren Sie dann in Gedanken durch einen wilden Garten? Schmeckt die Blüte nach Sommer? Nach Freiheit? Jeder Geschmack ist anders und lädt uns ein, die Welt neu zu entdecken. Seien Sie mutig und nehmen Sie sich einen Moment, um bewusst zu schmecken.

Wohin katapultiert Sie Ihre Zeitmaschine?

Was riechen Sie?

Gerüche haben die besondere Fähigkeit, Erinnerungen wachzurufen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Welche Bilder ruft der Geruch von verbranntem Holz hervor? Der Duft von Blumen im Garten? Und welche Gedanken verbinden Sie mit dem Duft eines ganz bestimmten Parfüms – an wen erinnert es Sie? Manche Düfte umhüllen nicht nur unsere Sinne, sondern durchdringen unseren Geist. So wie neulich bei meinem Besuch im Kloster Val Müstair, als mich dieser ganz bestimmte Duft im Flur sofort an die morgendliche Mehlsuppe meines Grossvaters in Zürs erinnerte. Im selben Augenblick war ich wieder das Kind, das mit ihm am Küchentisch sass und seinen Geschichten lauschte, eingehüllt in die warme Geborgenheit vergangener Tage.

Welche Gerüche wecken Erinnerungen und Emotionen in Ihnen?

Was spüren Sie?

Wie fühlt sich der Stuhl an, auf dem Sie sitzen? Wie die Bettdecke auf Ihrer Haut? Spüren Sie die Struktur des Stoffes, des Polsters? Ist das Material weich oder eher fest? Das Glas, das Sie in der Hand halten – wie fühlt es sich an? Ist es leicht, kühl und glatt oder hat es eine raue Oberfläche? Fühlen Sie die Struktur der Serviette, die Oberfläche der Tischplatte oder das Gewicht des Bestecks? Die Gabel, das Messer – wie liegen Sie in der Hand? Sind sie schwer und solide, vermitteln sie ein Gefühl von Beständigkeit und Qualität, oder sind sie leicht und elegant? Was spüren Sie unter Ihren Fingerkuppen, Ihren Füssen, auf Ihrer Haut? Ist der Boden unter Ihren Füssen hart oder weich, kühl oder warm? Fühlen Sie die Beschaffenheit der Materialien, die Ihre Haut berühren?

Welche Sinneseindrücke nehmen Sie wahr? Spüren Sie nach.

Was hören Sie?

Vielleicht hören Sie ein leises Gemurmel, ein Zusammenspiel von Stimmen, verschiedene Sprachen und Dialekte, die sich zu einem Klangteppich verweben. Ein fröhliches Lachen hier, ein freundliches Summen dort – lebendige Klänge sind wie unsichtbare Fäden, die sich durch den Raum ziehen und ihn mit Leben füllen. Aber auch das Rascheln von Blättern im Wind, das Bellen eines Hundes, das Klappern von Geschirr, das Rattern der Kaffeemaschine, Kirchenglocken, Motorengeheul – all diese Geräusche tragen zur Klanglandschaft eines Ortes bei und verleihen ihm seine unverwechselbare Identität.

Hören Sie genau hin – was nehmen Sie wahr?

Was sehen Sie?

Modernes Design oder Patina? Alt oder neu? Hell oder dunkel? Haben Sie schon einmal die Decke, die Lampen, den Boden unter Ihren Füssen genau betrachtet? All die Details, die im Alltag gerne übersehen werden? Die Struktur der Wand, die Art und Weise, wie das Licht durch den Raum fällt, die Muster im Boden, der Wolkenhimmel, Abnutzungsspuren. All diese Elemente erzählen eine Geschichte. Lassen Sie Ihren Blick schweifen und entdecken Sie die Facetten des Raumes. Sehen Sie sich um und betrachten Sie, ohne zu werten.

Was fällt Ihnen auf, wenn Sie den Raum mit neuen Augen betrachten?