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Ich möchte einfach nur hier sitzen

Ist keine Zeit haben schick? Ist Langeweile, Rückzug, Innehalten, Nichtstun etwas für Romantiker? Oder warum genau füllen wir die Pausen im Alltag mit dem Schnell-schnell-Erledigen von diesem und jenem? Müssen wir jede Minute produktiv nutzen? Ist Zeit Geld? Oder ist Zeit haben, sich Zeit nehmen, vielleicht wertvoller, als Geld es jemals sein kann?

 

von Doris Büchel

«Hermann, was machst du da?»
«Nichts.»
«Nichts? Wieso nichts?»
«Ich mache nichts.»
«Gar nichts?»
«Nein.»
«Überhaupt nichts?»
«Nein. Ich sitze hier.»
«Du sitzt da?»
«Ja.»

Kennen Sie das? Sie sitzen am Schreibtisch, auf dem Sofa, am Küchentisch – und starren. Vielleicht trommeln Sie dazu mit den Fingern. Oder wippen mit den Füssen. Weil: Sie sollten eigentlich einen Text schreiben, ein Geburtstagsgeschenk kaufen, Altpapier bündeln. Sie sollten, aber Sie wollen nicht. Respektive, Sie wollen, aber Sie können nicht. Vielleicht, weil Ihnen gerade nicht der Sinn danach steht. Weil Sie sich nicht aufraffen mögen. Weil Ihr Fokus auf die Sache zwischen Stuhl und Tisch geflutscht, unauffindbar ist. Das Problem ist: All diese Dinge stehen heute auf ihrer To-do-Liste. Und Sie wissen: Wenn Sie nicht heute diesen Text schreiben, dieses Geburtstagsgeschenk kaufen, dieses Altpapier bündeln – wann dann? Schliesslich ist die Agenda auch morgen vollgekritzelt, und übermorgen, und überübermorgen sowieso. Wir treiben auf unserer To-do-Welle wie ein Gummiboot auf stürmischer See. Die Arbeit, die Hobbys, die Freunde, die Kinder, die Liebe, die Katzen, der Haushalt – und einfach mal nichts tun möchte man ja auch noch. Zur Verfügung stehen sieben Tage die Woche à vierundzwanzig Stunden. Das muss für eine Woche reichen! Nur gut, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit längst fliessend sind, dass starre Arbeitszeiten mehr und mehr verwässern. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag: Nicht der Wochentag und die Uhrzeit entscheiden, wann wir online oder offline sind, wann wir arbeiten, einkaufen, zum Coiffeur gehen, Freunde einladen, die Familie treffen – sondern wir ganz allein. So viele Freiheiten, juhee! Oder doch eher: Auweeh?

Ist keine Zeit haben schick? Ist Langeweile, Rückzug, Innehalten, Nichtstun etwas für Romantiker? Oder warum genau füllen wir die Pausen im Alltag mit dem Schnell-schnell-Erledigen von diesem und jenem? Müssen wir jede Minute produktiv nutzen? Ist Zeit Geld? Oder ist Zeit haben, sich Zeit nehmen, vielleicht wertvoller, als Geld es jemals sein kann? Noch immer sitzen wir am Schreibtisch, auf dem Sofa, am Küchentisch – und starren, trommeln, wippen. Noch immer ist weder der Text geschrieben noch das Geburtstagsgeschenk gekauft noch das Altpapier gebündelt. Was nun? Prokrastinieren wir weiter oder reissen wir uns zusammen und raffen uns auf? Frönen wir noch ein Weilchen länger dem schlechten Gewissen und schieben die Dinge vor uns her? Oder schreddern wir die To-do-Liste, lassen los und geben uns dem bewussten Nichtstun hin? Nichtstun: Geht das überhaupt? Falls ja, wie?

Hand aufs Herz: Wie oft betrachten wir den Himmel, die Tapete, das Gras – einfach so, ohne Bedeutung, Grund, Sinn, Ziel? Wann haben wir zuletzt nichts getan? Ich meine: hängen, chillen, nichts tun, nichts nichts? Ich meine: Länger als sieben Minuten am Stück? Wann war uns zuletzt so richtig schön langweilig? Ach, die gute, alte Langeweile … Sie erinnern sich?

«Aber Hermann, irgendwas machst du doch?»
«Nein.»
«Denkst du irgendwas?»
«Nichts Besonderes.»
«Es könnte ja nicht schaden, wenn du mal ein bisschen spazieren gingest.»
«Nein, nein.»
«Ich bringe dir deinen Mantel.»
«Nein danke.»
«Aber es ist zu kalt ohne Mantel.»
«Aber ich geh ja nicht spazieren.»
«Aber eben wolltest du doch noch.»
«Nein. Du wolltest, dass ich spazieren gehe.»

«Augenblicke des Innehaltens verweisen uns auf uns selbst. Und dieses Selbst ist manchmal eine gefährliche Gegend in unserem Kopf.»

Okay, gut, Sie haben natürlich recht. Zuerst sollten wir definieren, was Langeweile überhaupt ist. Ich frage deshalb Dr. Frank Berzbach. Er unterrichtet Literaturpädagogik und Philosophie an der Technischen Hochschule Köln und ist Autor mehrerer Bücher – darunter viele Bestseller wie «Die Kunst ein kreatives Leben zu führen», «Die Form der Schönheit» und «Die Kunst zu lesen». In seinem neusten Buch «Die Kunst zu glauben – eine Mystik des Alltags» lädt Frank Berzbach ein, tiefer zu schauen, weit unter die Oberfläche all dessen, was wir sehen. Freiheit und Schönheit – im Glauben können wir sie finden. Davon ist Frank Berzbach überzeugt.

Lieber Frank, was ist Langeweile?
Etwas, das ich sehr selten empfinde. In der Regel können wir uns in diesem Zustand nicht überwinden, uns auf etwas einzulassen. Wir wollen etwas tun, tun es aber nicht. Das muss kein Aktionismus sein: Es ist schliesslich auch eine Entscheidung, sich aufs Sofa zu legen und nur zu duften. Wer sich langweilt, gibt sich weder der Arbeit noch der Musse hin – er ist temporär hingebungsunfähig.

Welche positiven Seiten gewinnst du aus spiritueller (und/oder wissenschaftlicher) Sicht der Langeweile ab?
Augenblicke des oft erzwungenen Innehaltens verweisen uns auf uns selbst. Und dieses Selbst ist manchmal eine gefährliche Gegend in unserem Kopf. Davon ausgenommen sind natürlich ausbeuterische, monotone Arbeitsverhältnisse, die uns nur abstumpfen. Insgesamt ist Langeweile ein Luxus der Wohlständigen.

Wie reagiert man denn adäquat auf Langeweile?
Nicht alles muss unbändige Freude machen, manches muss nur getan werden. Wer dauerhaft an Langeweile leidet, der muss sicher mehr im Leben ändern als bloss ein unangenehmes Gefühl. Es gibt vielleicht die kleine Langeweile, im Alltag, wenn wir auf die Bahn länger warten müssen – und es gibt die grosse Langeweile, wenn man in einer uninspirierenden Liebesbeziehung festklebt. Bei dem einen ist Geduld eine Übung und Tugend, bei den grossen Themen stehen wir vor Lebensentscheidungen.

Warum sollten wir die Langeweile akzeptieren respektive was entgeht uns, wenn wir uns deren verwehren?
Langeweile ist ein Zustand, in dem wir uns einiger Dinge bewusst werden können. Will ich tun, was ich gerade tue? Wie lange wird das noch dauern? Bin ich ungeduldig, habe ich selbst Einfluss auf das Geschehen (oder eben nicht)? Sich nicht zu langweilen ist ein Geschenk, wer die Langeweile als positives Innehalten erlebt, vielleicht sogar als Pause vom ständigen Aktivsein, der macht vieles richtig. Wenn in mir die Langeweile ausbricht, schaue ich, was ist Praktisches zu tun? Und jeder, der einen Haushalt führt, weiss: Da findet sich schon etwas. Wenn mich ein Roman langweilt, höre ich entweder sofort auf ihn zu lesen (bei unbedeutender Lektüre) oder ich halte konsequent durch, wenn ich etwas unbedingt lesen möchte. Aber eben nichts dazwischen. Eines ist niemals hilfreich: Sich bei anderen über die eigene Langeweile zu beklagen!

«Also was willst du denn nun?»
«Ich möchte hier sitzen.»
«Du kannst einen ja wahnsinnig machen!»
«Ach!»
«Erst willst du spazieren gehen, dann wieder nicht, dann soll ich deinen Mantel holen, dann wieder nicht … was denn nun?»
«Ich möchte hier sitzen.»
«Und jetzt möchtest du plötzlich da sitzen!»
«Gar nicht plötzlich, ich wollte immer nur hier sitzen.»
«Sitzen?»
«Ich möchte hier sitzen und mich entspannen.»

Eine, die das Nichtstun nicht nur praktiziert, sondern zelebriert, ist Sarah Buchli. So wie die meisten Yoga-Lehrer*innen beendet auch die dreifache Mutter und Inhaberin der Yoga-Werkstatt in Werdenberg jede Lektion mit Shavasana, der Totenstellung. Dabei legen sich die Teilnehmenden nach den Körperübungen auf den Rücken, decken sich mit einer warmen Decke zu, schliessen die Augen und üben sich im bewussten Loslassen. «Es ist nicht immer leicht, die Stille zuzulassen. Einfach sein, mit sich selbst, ohne Ablenkung. Das ist für viele die grösste Herausforderung der ganzen Yogastunde», sagt sie. Nicht selten würden dabei auch Tränen fliessen. Sarah Buchli: «In der Ruhe kommen Emotionen hoch und Spannungen, die wir manchmal seit Wochen aushalten, lösen sich. Wir lassen eine Art Verletzlichkeit und Weichheit zu, die wir uns im Chaos des Alltags nicht erlauben.»

«Einfach sein, mit sich selbst, ohne Ablenkung. Das ist für viele die grösste Herausforderung.»

Ja, das Leben, der Druck des Alltags, macht manchmal hart. Dabei wissen wir alle, wie wertvoll der Müssiggang für Körper, Geist und Seele ist. Auch Sarah Buchli baut die Stille in ihren Alltag ein, indem sie beispielsweise beim Autofahren bewusst das Radio ausschaltet, täglich meditiert und regelmässig für ein paar Minuten die Augen schliesst und dem eigenen Atem lauscht. «Am Anfang bemerkt man den unruhigen Verstand, aber nach einer Weile spürt man den Frieden und die Gelassenheit.» Denn: Um die eigenen Bedürfnisse und die innere Stimme zu hören, um die vielen Einflüsse und Eindrücke von aussen zu verdauen, müsse der Alltagslärm hin und wieder auf das Minimum reduziert werden. «Dadurch werden wir nicht nur geerdet, sondern auch wacher und präsenter.» In ihrer Yoga-Werkstatt sieht sie das täglich: «Shavasana ist für mich der schönste Moment der ganzen Lektion. Die Masken fallen von den Gesichtern ab, genauso wie die vielen Rollen, die wir uns den Tag über aneignen.»

Produktivität ist nicht die einzige Masseinheit, wenn es darum geht, Zeit sinnvoll zu nutzen. Im Gegenteil. Die besten Ideen werden häufig nicht während eines Meetings oder vor dem Computer geboren, sondern ungeplant und dann, wenn wir es am wenigsten erwarten: unter der Dusche vielleicht, während eines Spaziergangs oder beim Betrachten der Wolken. Ich bin der Meinung, es lohnt sich, die Freude am Nichtstun wiederzuentdecken – und zwar einfach so, dem puren Genuss, unserer Kreativität und dem Seelenfrieden zuliebe. Was meinen Sie?

Ach ja, sollten Sie sich nicht angesprochen fühlen und sich gerade der Langeweile hingeben oder dem süssen Nichtstun frönen – herzliche Gratulation. Ich bin stolz auf Sie!

«Hermann?»

«Bist du taub?»
«Nein, nein.»
«Du tust eben nicht, was dir Spass macht. Stattdessen sitzt du da!»
«Ich sitze da, weil es mir Spass macht.»
«Sei doch nicht gleich so aggressiv.»
«Ich bin doch nicht aggressiv.»
«Warum schreist du mich dann so an?»
«ICH SCHREIE DICH NICHT AAAN!»

aus: Loriot, «Ich will hier nur sitzen»

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«Sometimes doing nothing leads to the very best something.» Winnie-the-Pooh Experiment gelungen, Künstlerinnen glücklich – so lässt sich der Nachmittag im Wald am Grabserberg, zwischen Summerweid und Herti, kurz umschreiben. Drei Stunden lang setzten wir Carla Hohmeister (Dietikon und Bad Ragaz) und Beate Frommelt (Zürich und Liechtenstein)der Stille und dem bewussten Nichtstun aus.

 

Die Bedingungen: Gebt euren Rucksack und die Telefone ab, redet mit niemandem und bewegt euch in einem Radius von maximal fünfzig Metern. Und wie kam der Versuch bei den beiden an? «Zusammen lachen, zusammen schweigen, zusammen sein, während man etwas oder nichts tut, ist schön», waren sie sich einig.

beatefrommelt.ch     carlahohmeister.ch